Von Generation zu Generation, was bleibt sind die Geschichten des Lebens und eine Mahnung
Kirchentag Stuttgart 05.06.2015 – „Umkehren aus Abgründen – von Generation zu Generation“
von f.m.
Beim diesjährigen Kirchentag in Stuttgart, zu dem sich bis zu 150.000 TeilnehmerInnen unter dem Slogan „damit wir klug werden“ versammelten, fand eine reiche Themenvielfalt zu kulturellem, religiösem und politischen Austausch statt. Unter den Beiträgen zur demokratischen Kultur hatte, neben einem Resümee der deutsch-israelischen Beziehungen der letzten 50 Jahre, einer kritischen Betrachtung der Arbeit des Verfassungsschutzes im Hinblick auf den NSU, eine Podiumsdiskussion am Freitagabend einen besonderen Stellenwert. „Umkehren aus Abgründen – von Generation zu Generation“ war der Titel, unter dem Sally Salomon Perel und Steven Hartung sich den Fragen der Moderation Beate Kramers sowie Rudi-Karl Pankes (beide Institut Neue Impulse) sowie des Publikums stellten. Begleitet durch die wirkungsvollen Töne des Cellonistens Roland Baumgarte, hatten sich 300 bis 400 Personen dazu eingefunden.
Foto: Twitter @evangelisch_FB
Eingeleitet von einem eindrücklichen Vortrag von Prof. Weisskirchen, der die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dessen Fortschreibung im heutigen Gewand betonte, war schon anfänglich klar, worum es sich handeln wird: Paul Celans Schlusszeilen des Gedichtes Aschenglorie „Niemand zeugt für den Zeugen“ wurden von Weisskirchen ergänzt: „Heute können wir Zeugnisse von wahrhaftigen Zeugen in unser Gedächtnis aufnehmen. Und wir können eine neue Zeugenschaft begründen, ‚damit wir klug werden.‘“
Folgend gab Steven Hartung einen kurzen Abriss seiner Lebensgeschichte. Bereits mit 13 Jahren hatte er den ersten Kontakt mit der rechtsextremen Szene in Thüringen; in der Schule tauschten die Heranwachsenden Musik, irgendwann auch neonazistische. Der Umstand einer weiten Verbreitung dieser Weltanschauung in der Region und die „bewusste Entscheidung, denn ich hätte ja auch einer der Wenigen sein können, die sich nicht dafür begeistert hatten,“ waren, neben dem „niedrigschwelligen Angebot einfacher Lösungen auf komplizierte gesellschaftliche Zusammenhänge“, die Gründe für den Einstieg, wie er resümierte. Über Jahre hinweg engagierte er sich mehr und mehr: vom Mitläufer, über die freie Kameradschaftsszene, bis hin zum Vertreter nationalrevolutionären Gedankenguts – vom Ideologisierten zum Ideologisierenden. Doch nicht nur die Gruppenzusammenhänge veränderten sich, sondern auch seine Weltanschauung. „Am Anfang hasste ich, Menschen hatten nicht die gleiche Wertigkeit“ und Vernichtungswünsche traten zu dem Anspruch, den Menschen – „aus einem naiven Gerechtigkeitsempfinden“ – zu helfen. Später verschob sich das Feindbild vom einzelnen Mensch auf „das System“ – Polizei, Demokratie und Kapitalismus.
Doch war es nicht ein Moment – „ein Lichtschaltereffekt“ – der die Wende brachte. Viele Schritte ging es zu gehen, über vieles nachzudenken und zu verändern, bevor die Veränderung auch nach außen trat. Als Momente identifiziert der Redner unter anderem die Beschäftigung mit anderen Ansichten – „zuerst aus dem Gedanken: Kenne deinen Feind“. Der Blick über den Tellerrand zeigte ihm auf, dass seine eigenen Erklärungen unzureichend waren; die Frage, warum so viele Menschen gegen ihn und seine ehemaligen Kameraden demonstrierten, obwohl er sich mit der – sich singulär verstehenden – Wahrheit, die er vertreten hatte, im Recht sah, trieb ihn an. Nicht zuletzt waren es aber auch die Gespräche mit einem Freund (später stiegen die Beiden gemeinsam aus der Szene aus) und mit neu gewonnenen FreundInnen, welche die alten Muster immer weiter aufbrachen.
Mit den Worten „nun von dem Rechtsradikalen, der gern einer sein wollte, zu dem ehemaligen Hitlerjungen Sally Perel“, leitete Rudi-Karl Panke über. Bezeichnend ist an dem rüstigen 90-Jährigen nicht nur, dass er Hitlerjunge gewesen war, sondern zudem der einzige bekannte Jude, der dieser NS-Organisation angehört hatte. Doch zu Beginn hatten ihn nicht die Überzeugung oder der Hass getrieben, sondern Angst und Zufall.
Sally, der bei der Machtergreifung Hitlers gerade acht Jahre alt war, wuchs im Niedersächsischen Peine als Sohn eines Rabbiners auf. Seine Kindheit war eine glückliche, wie er am Beispiel seines Spielens im Sandkasten illustrierte, bis die Nürnberger Rassengesetze griffen und er nicht mehr in die Schule gehen durfte. Zu diesem Zeitpunkt wurde ihm das erste Mal bewusst, was schon viele Jüdinnen und Juden in der Barbarei des Nationalsozialismus täglich erlitten hatten. Seine Eltern kamen zu dem Entschluss, dass die Familie in Deutschland nicht länger leben könne und flohen in das polnische Łódź. Doch währte die Sicherheit, die Sally mit dem erlernen „der schwierigen polnischen Sprache“ verbrachte, nicht lang. Als am 1.9.1939 die Deutschen über Polen und damit die dort lebenden jüdischen Menschen herfielen, musste die Familie Perel erneut überlegen, was für den Schutz zu tun sei. Die Wehrmacht stand schon kurz vor der Stadt, da schicken die Eltern Sally und dessen Bruder Isaak los Richtung Osten. „Vergiss nicht wer du bist, Sally“, waren die letzten Worte, die sein Vater ihm mitgab; Worte, die die ausdrückten, dass er seine Wurzeln, seinen Glauben und sich selbst nicht vergessen solle. Seine Mutter, die sich bewusst war, dass sie ihren Sohn nie wiedersehen würde, verabschiedete sich innig und sagte: „Sally, du sollst leben“.
Auf der Flucht in den, nun russisch besetzen, polnischen Osten wurden die Brüder – der eine 30, Sally, lediglich 14 Jahre – getrennt. Er beschreibt, mit der einen oder anderen Posse, die er getrieben, den Alltag in einem Waisenhaus, wo er die russische Sprache und die Grundlagen des Kommunismus lernte. Als die mörderische Eroberungsmaschinerie nun Russland verschlingen zu begann, erlebte Sally das Inferno des Krieges erstmals hautnah. Tiefflieger beschossen die Flüchtlinge, unter denen sich auch er abermals befand. Nur kurze Zeit später fielen etliche von ihnen den Deutschen in die Hände. „Juden vortreten!“, wiederholt der Zeitzeuge den Befehl des deutschen Soldaten. In dem kleinen Waldstück nebenan waren Gewehrsalben zu hören, welche die selektierten Juden trafen. Der Gedanke des nahen Todes lähmte ihn, versetze ihn in Gedanken an die glückliche Vergangenheit mit seiner Familie, an die letzten Worte seiner Eltern. Als die Stimme befahl „Hände hoch!“ und ergänzte „bist du Jude?“, entgegnete Sally mit einer festen Stimme, von der er noch heute nicht weiß, wie sie entstand war: „Nein, ich bin kein Jude, ich bin Volksdeutscher.“ Die Worte seiner Mutter – „Sally, du sollst leben“ –, „die Worte des Lebens“, so erklärte es der Berichtende heute, hatten sich durchgesetzt. Nun ging alles ganz schnell. Sally hieß nun, da er nach seinem Namen gefragt wurde, Josef, später einfach Jupp – Sally Salomon, ein jüdischer Name, hätte den sicheren Tod bedeutet. Er wurde einer Wehrmachtseinheit zugeteilt und zog mit ihnen und der Ostfront immer weiter. „Nie habe ich auf Menschen geschossen oder sie gar erschossen“ versichert er; zuerst, da er lediglich 14 Jahre alt war und damit keine Waffe tragen durfte, später, weil es „eine Grenze gab”, die er nicht überschreiten wollte.
Sally erzählt noch einiges mehr: dass er von seinem Hauptmann adoptiert werden sollte, dass er auf einer Napola („Adolf-Hitler-Schule“) aufgenommen wurde und dort selbst die Ideologie aufnahm, die so viele Menschen den Tod kostete oder dass er erfüllt von der politischen Anschauung der Nazis, um die verlorene Schlacht bei Stalingrad weinte. Er verleugnete sich, die, die ihm wichtig waren und Jupp ersetze Sally gänzlich. Erst ein Besuch des Ghettos Łódź (nun Litzmannstadt) schien ihm die Augen wieder geöffnet zu haben. Deutschen war es verboten das Ghetto zu besuchen, nur eine Straßenbahn fuhr hindurch, die jedoch keinen Zwischenhalt machte. Er spähte bei den vielen Durchfahrten nach seinen Eltern, die sich wohlmöglich noch hier aufhielten. Das Grauen war allgegenwärtig; die Menschen gezeichnet von Hunger und Krankheit, gebrochen durch die ständige Schikane der deutschen Besatzer und der Zivilbevölkerung – es war der Vorhof zur Hölle. Die Hölle selbst war nur 200km entfernt – Auschwitz. Schmerzlich wurde ihm wieder bewusst, der Abschied von seinen Eltern war ein endgültiger gewesen. Eingesetzt im letzten Aufgebot Hitlerdeutschlands, dem Volkssturm, ergab sich Sally den Amerikanern und wurde nach kurzer Zeit frei gelassen. Er traf auch seinen Bruder Isaak wieder, der die Shoa in einem Konzentrationslager überlebt hatte. Vielen anderen war dieses Glück nicht beschieden.
Im Gespräch zwischen Sally Perel und Steven Hartung wurde trotz der vielen Unterschiede klar: Das Gemeinschaftsgefühl, die pseudowissenschaftlich unterfütterte Ideologie und deren Synthese im Dictum der Volksgemeinschaft, in welcher das Individuum nichts zählt, aber die Gemeinschaft bzw. die Idee alles, besteht bis heute fort.
Für Sally und Steven benötigte es einige Zeit an Aufarbeitung; die Ideologie veränderte sie, machte sie zu anderen Menschen. Doch taten sie den Schritt und begannen damit ein neues Leben. Beide klären nun über die Gefahren dieser Weltanschauung auf. In Schulen, wie auch auf dem diesjährigen Kirchentag in Stuttgart liefern sie Einblicke in Lebensgeschichten, die scheinbar nur wenige betrifft. Jedoch warnen sie auch entschieden vor diesem Bild. „Rechtsradikalismus ist heute kein Problem am Rand unserer Gesellschaft“, betont Steven, „alle Menschen prägen sie und schaffen ein Klima in ihr, in der Menschen akzeptiert oder ausgeschlossen werden. Rechte Ideologen knüpfen an diese Ressentiments an und entwickeln sie fort; die Ideologie hat sich aber auch gewandelt. Der Antisemitismus kommt nicht mehr in seiner öffentlichsten Form vor, sondern verbirgt sich unter anderem in Antiamerikanismus, der ‚Kritik‘ an Israel oder Verschwörungstheorien.“ Er verweist aber auch darauf, dass es nicht darum gehe, als erstes die ehemaligen Täter zu verstehen. „Die Täter sind es, die Menschen zu Opfern machen. Wichtiger ist es meiner Ansicht nach, den Opfern Gehör zu schenken; sie sind es, die tagtäglich unter dem leiden, was ich jahrelang für gut geheißen habe; die Opfer sind es, denen in unserer Gesellschaft selten richtig zugehört wird.“
Viele Fragen des Publikums beantwortete das Podium noch, einige blieben offen. Viele intensive Gespräche wurden im Nachhinein geführt. Im Podium war man sich, in Anlehnung an Theodor W. Adorno, indessen einig: Wir müssen alles dafür tun, dass sich Auschwitz und mithin die Greuel der nationalsozialistischen Barbarei nicht wiederholt.
Hintergrund
Zeitzeugen-Gespräch beim Kirchtag 2015
Umkehren aus Abgründen – von Generation zu Generation
Steven Hartung, Aussteigerinitiative Exit-Deutschland, Berlin
Sally Salomon Perel, Zeitzeuge (“Ich war Hitlerjunge Salomon”), Givataim/Israel Prof. Gert Weisskirchen, ehem. persönlicher Beauftragter OSZE-Vorsitzender zur Bekämpfung des Antisemitismus, Wiesloch
Moderation:
Beate Kramer, Institut Neue Impulse, Berlin
Rudi-Karl Pahnke, Theologe, Institut Neue Impulse, Berlin
Anwältin und Anwalt des Publikums:
Uwe Flock, Potsdam
Ursula Nikoleit, Senzig
Musik: Violoncello Improvisato, Burgwedel