Grußwort zu #EXIT20 von Chris Kraus

Wir können tun, was wir wollen, wir können lassen, was wir wollen, wir können nicht immer wollen, was wir wollen. Ohne diese Prämisse, von Schopenhauer in die Welt gesetzt, von der modernen Hirnforschung bestätigt, wäre EXIT gar nicht denkbar. Es gibt keine Entscheidungen, die der Mensch völlig frei trifft, auch ein Neonazi tut das nicht. Genausowenig entfernt er sich aus völlig freien Motiven aus einer Szene, aus der er sich befreien möchte, oder korrekter gesagt, aus der er sich wegwünscht. Manipulation, Gewalt, Wahnsinn, Unrecht, Schmerz, Fehler, Schuld: Das sind starke Motive, sich zu verändern. Angst ist das stärkste Motiv, sich nicht zu verändern. Also muss eine Veränderung sowas von gewollt sein.
Nicht nur beim Tun und Lassen, sondern auch beim Wollen helft ihr, allein schon dadurch, dass es euch gibt. Das ist das Entscheidende. Denn dafür kriegt man nicht nur Applaus.
Nicht nur unser Strafrecht, sondern auch ein Gutteil des politischen Diskurses basiert auf der Annahme, dass jeder Mensch zu jeder Zeit die objektive Fähigkeit hat, sich für das Recht und gegen das Unrecht, ja sogar für das menschliche und gegen das Unmenschliche zu entscheiden. Ich glaube das nicht. Wir sind alle hochgradig fremdbestimmte Herdentiere, prädestiniert für Gruppenzwang aller Art, für komplexe wie banale Manipulation. Ich komme selber aus einer nationalsozialistisch grundierten Familie, habe darüber Filme gemacht und Bücher geschrieben, und wenn ich irgendwas daraus gelernt habe, dann die einfache Tatsache, dass nur ein Bruch im Leben hilft, sich selbst ein Stück näher zu kommen. Euer gesamter Ansatz, an das Verbesserliche im Menschen zu glauben, ohne das Unverbesserliche auszublenden (denn das sogenannte „Drittelgesetz“ der Psychotherapie gilt auch hier), ist aus meiner Sicht eine so unfassbar richtige Herangehensweise, dass ich einfach nur sehr und von ganzem Herzen hoffen kann, dass Ihr jede nur denkbare Unterstützung bekommt, um unbeirrt auf eurem Weg weiterzumachen. Dafür alles Glück und die besten Wünsche, ahoi.

Chris Kraus