20 Jahre EXIT-Deutschland
Von Bernd Wagner
„Irgendwann hat man die Wahl, für welchen Weg man sich entscheidet. Man kann weitergehen oder etwas Neues wagen. Aber auch beim Verlassen alter Pfade gibt es mehrere Möglichkeiten. Welche die richtige ist, kann man nur selbst herausfinden“.
Zitat eines Aussteigers
23.Mai 2000. EXIT-Deutschland wird auf dem Berliner Bebelplatz gegründet. 65 Jahre vorher war am gleichen Tag das Grundgesetz, die damalige provisorische Verfassung der westdeutschen Bundesrepublik Deutschland, in Kraft getreten. Der Platz ist für die Gründung symbolträchtig. Josef Goebbels ließ am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz, wie der Ort damals hieß, Bücher von Menschen, die der nationalsozialistischen Gesinnung nicht entsprachen, verbrennen. Ein Autodafé, wie es andernorts in Deutschland und der Welt später noch viele und tödliche geben sollte, im Namen einer „letzten Wahrheit“, die eine Lüge war und eine Mordmaschine wurde.
Am 7.Oktober 1949 wurde in Ostberlin die Deutsche Demokratische Republik ausgerufen, mit der sowjetischen Macht des Stalin-Systems im Rücken. Eine Teilkopie. Hier wurde ich 6 Jahre später geboren und wuchs im Glauben an sie und ihre historischen Mission in Deutschland und der Welt Kommunismus auf. Auch ich glaubte an eine „letzte Wahrheit“, die ich im Antifaschismus erblickte.
1968 begann ich mit 13 Jahren politisch zu denken, fühlte mich fremd und zugleich aufgerufen für das revolutionäre Ideal der Freiheit aktiv zu sein, glaubte, das System von innen gestalten zu können, eine Illusion, wie ich schon vor 1989 erkennen musste. Mein Sozialismus war nicht möglich, auch die Freiheit nicht. Was konnte dem weitgehend entsprechen? – Eine Gesellschaft, wie die des Grundgesetztes in Westdeutschland, dem damaligen Klassenfeind. Das Grundgesetz und der Rechtsstaat als Basis einer Demokratie, die der europäischen Aufklärung entsprang, waren es. Als Ideal und Konstruktion, die ich mir damals wie heute nicht als magische Religion vorstellte, sondern als Paradigma, das den Alltag der Menschen in allen Lebenslagen leitet, notfalls bestimmt und dabei nicht von politischen Moden geschüttelt und missachtet wird. Ich begriff, dass es nicht um Ideologie und Politik geht, die in jeder Gestalt in die Verblendung und den Extremismus einmünden kann, wenn Menschen gezwungen werden, die „Lehre“ anzunehmen. Es geht jedoch um Recht und seine inneren Werte für jeden Menschen, der sich im Bereich der jeweiligen Staatlichkeit aufhält, egal was er ist und was er denkt. Das ist einer der Kerne der Freiheit, die ich meine. Jeder ist für sein rechtsgemäßes Handeln verantwortlich, eine Leistung für alle.
Das war auch der Leitgedanke von EXIT-Deutschland: zu helfen, ideologischen und politischen Verblendungen zu entfliehen und Verstrickungen in der Radikalität aufzulösen, sie aufzuarbeiten und Verantwortung in Freiheit zu übernehmen.
Das entsprach auch meinem Leben, das entsprach auch Ingo Hasselbach, der Neonaziführer in Ostdeutschland war, zum Ende der DDR und in den ersten Jahren nach 1990. Eine Zeit, in der sichtbar wurde, dass die DDR in Sachen Antifaschismus versagt und eine starke militante Naziszene besonders unter jungen Arbeitern generiert hatte. Ingo Eltern waren wie ich Menschen, die sich für den Kommunismus und die DDR eingesetzt hatten. Er hatte gemerkt, wie hohl das war.
Nicht alle, die die Bewegung und die Macht der Nationalsozialisten bis 1945 und danach mittrugen, waren davon zutiefst überzeugt, wiederum andere Überzeugte zweifelten und kehrten ihr dann den Rücken. Ein Griff in die Dissidenz. Die Erfahrung von Diktatur und der Verrat von „Idealen“, Gewalt gegen Andersdenkende und Andersseiende waren dafür oft der Anlass. Die erhoffte Gerechtigkeit war verraten. In der Geschichte gab es viele Beispiele. Das Gleiche trifft auf die kommunistische Weltanschauung zu, die ihre eigenen Schlächtersysteme der „Umerziehung“ und „Nutzbarmachung“ von Menschen hervorgebracht hat, von denen Gräberfelder in der ehemaligen Sowjetunion, in China und Kambodscha noch heute zeugen.
Mit dem Fall der DDR waren ich und meine zu der Zeit noch lebende Familie damit konfrontiert, dass ein Systemwechsel ein wohl öfter auftretendes Ereignis ist: 1918, 1933, 1945, 1949, 1989. An ein Ende der Geschichte, wie amerikanische Politoogen, glaubte ich nicht, sondern nur an Gestaltung der wirklich Interessierten, wie die Ideale Freiheit und Menschenwürde als Recht verwirklicht werden können. Das treibt mich bis heute an. Wo treiben wir alle hin? Was tun wir alle wirklich und wie wirkt es in der Interdependenz der Welt. Demokratie ist nicht immerdar und kein eschatologischer Zustand.
Das Nachdenken darüber hat sich in der Zeit nach 1990 fortgesetzt, allerdings nun in anderer Weise als in der DDR. Ich verstand nicht, wieso die Machtpolitik im Deutschland der Demokratie die rechtsradikale Gefahr nicht sah, die aus der DDR kam und die auch in der BRD sichtbar war. Überall spanische Wände und Zonen der diskursiven Verweigerung, in der Politik, in der Wissenschaft, in Polizeien, Nachrichtendiensten und der Justiz. In der DDR war ich verlacht worden und vom Ministerium für Staatssicherheit bekämpft. Als auf Republiksebene tätiger Offizier der Kriminalpolizei hatte ich im Innenministerium den entscheidenden Überblick. Als ich das Phänomen 1987 bis 1990 untersuchte, wurde ich dafür bestraft – die zuständige Arbeitsgruppe wurde aufgelöst, ich verlor die Konsultanz über die Forschung und den Dienstposten als Referatsleiter. In der vereinigten Republik erging es mir nicht viel besser, nur ohne Drohung mit einem Platz in der Strafvollzugseinrichtung Cottbus – einem der beiden Gefängnisse des MfS der DDR. Die vorliegenden Erkenntnisse zur Lage Rechtsextremismus wurden ignoriert ebenso wie die zunehmenden Gewaltereignisse gegen Ausländer und andere Opfergruppen. Analysten und Mahner in der Sache wurden dienstintern an den Pranger gestellt und deren Karrieren abgebrochen.
Mit EXIT-Arbeit begonnen habe ich in der DDR in der Kriminalpolizei des zentralen Kriminalamtes. Als Leiter der Abteilung Extremismus und Terrorabwehr hatte ich die Vorstellung, dass es Sinn macht, Extremisten Zweifel an ihrem Tun zu vermitteln. Das hatte auch mir geholfen. Der, der zweifelt, handelt nicht mehr sicher im Sinne seiner Mission, kann sie verwerfen. Und es geschah: der erste Neonazi meldete sich im Sommer 1990, ein Mann aus der Bewegung von Michael Kühnen. Es zeigte sich, dass Fanatismus in einem Menschen vergehen und die Menschlichkeit zurückkehren kann. „Einmal Nazi ist nicht immer Nazi“, lautete die Erkenntnis. Kein Extremist muss es bleiben.
Ich bin, nachdem ich seit über 40 Jahren mit dem Thema Rechtsextremismus und anderen freiheitsfeindlichen Bewegungen in zwei gesellschaftlichen Systemen konfrontiert und persönlich befasst bin, erstaunt über die Ausrichtung der Politik in der Bundesrepublik. Ausstieg aus dem Extremismus als Potenzial der demokratischen Gesellschaft – ich frage mich immer wieder, warum das durch die politischen Entscheider nicht gewürdigt wird.
Über 760 Personen hat EXIT-Deutschland seit Gründung unterstützt, ihren rechts- extremistischen Bezügen zu entrinnen und einen neuen Lebensansatz zu finden. 16 von ihnen haben es nicht geschafft. All diese Menschen waren militant oder politisch ultraradikal unterwegs, viele von ihnen waren Gewalttäter. Menschen wie Böhnhardt und Mundlos. Abgesehen davon, dass viele potentielle Opfer vor Angriffen bewahrt wurden und hunderte Familien ihre Angehörigen, ihre Kinder zurückgewonnen haben.
Anders im Ausland und in der Zivilgesellschaft– hier zeigt man echtes Interesse an den Erfahrungen der Arbeit von EXIT und nutzt diese für die Demokratie als Ganzes und für das Alltagsleben, das sich nicht im Bildraum von Politik und Medien abspielt, sondern wo es darum geht, gegenüber Radikalen eine Strategie der Auseinandersetzung zu suchen mit dem Ziel, sie für die demokratische Gesellschaft zurück zugewinnen. Es hilft hier kein Dauergeschrei, keine protestierende Betroffenheit, keine Stigmatisierung, kein Outing, keine Selbstjustiz oder Gewalt – Methoden, die leider immer beliebter werden, je schwächer die demokratische Kultur wird.
Das sehen viele, die einen menschenrechtlichen Antifaschismus leben, dem Recht, der Rechtsordnung und den unteilbaren Grundrechten verpflichtet. Sie unterstützen EXIT-Deutschland und ähnliche Initiativen, helfen praktisch im Großen und Kleinen, spenden auch, sprechen öffentlich über die Arbeit, auch mit Aussteigern, die sie einbeziehen und unverdrossen aufklären, Wissen geben und Orientierung im geistigen Gestrüpp der Extremismen und vielfältigen Fehlleistungen.
Das ganze Spektrum der Bevölkerung ist in dieser unformierten Bewegung der demokratischen Freiheit vertreten, von der Schülerin bis zum Unternehmer, Polizeibeamte und Krankenschwestern, Künstler, Medienleute, viele. Nur ihnen ist es geschuldet, dass EXIT-Deutschland durchhält und ich weitermache. Vertrauen gegen Vertrauen.
Danke dafür, danke.
Dr. Bernd Wagner