30. März 2012

Neonazi-Aussteiger: Behörden waren vor Rechtsterrorismus gewarnt

Ingo Hasselbach über rechtsextreme Gruppen und ein mögliches NPD-Verbotsverfahren
Fügt externe Inhalte in einem eingebettetem Rahmen ein.

Moderation: Claudia van Laak und Ulrich Ziegler

Der Ex-Neonazi Ingo Hasselbach hat sich für ein NPD-Verbot ausgesprochen. Mit den Taten
der Zwickauer Terrorzelle habe rechte Gewalt eine neue Dimension erreicht. “Man muss
diesen Leuten den Boden unter den Füßen wegziehen”, so Hasselbach. Den Ermittlern wirft
er Versagen vor.

Deutschlandradio Kultur: Herr Hasselbach, Sie sind 1967 in Ostberlin geboren, gelten als der bekannteste Aussteiger aus der Neonaziszene. Mit Ihnen wollen wir in den kommenden ungefähr
25 Minuten über das Für und Wider eines NPD-Verbotsverfahrens reden, auch über die Rolle der sogenannten V-Leute, über gewaltbereite rechtsextreme Gruppen und natürlich auch über Ihre Erfahrungen als ehemaliger Neonazi.

Bevor wir mit dem Gespräch beginnen, zunächst einmal ein paar Stationen aus Ihrem doch sehr bewegten Leben:

“Am 14. Juli 1967, als Kind zweier Journalisten in Ostberlin geboren, opponiert Ingo Hasselbach als Jugendlicher gegen den autoritären DDR-Staat und gegen sein Elternhaus. Er treibt sich zunächst in der Hippieszene und dann in der Punkszene herum und sympathisiert schließlich mit den rechten Skinheads. Sein öffentlicher Ausruf ‘die Mauer muss weg’ beschert ihm 1987 einen neunmonatigen DDR-Gefängnisaufenthalt. Ein Jahr später schließt sich Ingo Hasselbach der Neonaziszene an.
Am 6. November 1989, drei Tage vor dem Fall der Mauer, gelingt ihm die Flucht in den Westen.

Hasselbach sucht den Kontakt zu den Westneonaziführern Michael Kühnen und Christian Worch.
Er übernimmt als Vorsitzender der Nationalen Alternative das Kommando über rechte Schlägertrupps, die zumeist im Ostteil der Stadt ihr Unwesen treiben. Fast täglich werden Asiaten, Schwarze und Südeuropäer verprügelt. Die Boulevardmedien nennen ihn den ‘Führer von Berlin’.

1993 hat der Spuk ein Ende. Ingo Hasselbach kehrt der Neonaziszene den Rücken und offenbart sein ganzes Wissen dem Bundeskriminalamt. Im Jahr 2000 heiratet er die schwedische Regisseurin Maria von Heland und verlässt nach der Geburt seiner Kinder Deutschland aus Sicherheitsgründen. Heute lebt Ingo Hasselbach im europäischen Ausland, so der offizielle Sprachgebrauch. Er arbeitet als freier Autor und Journalist und engagiert sich nach wie vor bei ‘Exit Deutschland’, einer Organisation, die Rechtsextremen bei ihrem Ausstieg aus der Szene hilft und deren Mitbegründer
er im Jahr 2000 war.”

Deutschlandradio Kultur: Herr Hasselbach, Sie sind mittlerweile Vater von drei Kindern, die noch nicht in der Pubertät sind. Aber wenn die das in ein paar Jahren sind und Neonazifreunde mit nach Hause bringen, was sagen Sie ihnen dann?

Ingo Hasselbach: Auch wenn meine Kinder jetzt noch nicht in dem Alter sind, sind die mit dem Thema konfrontiert gewesen in ihrem jungen Leben – leider Gottes – allein durch die Sicherheitsmaßnahmen, unter denen wir teilweise gelebt haben in den letzten Jahren und dadurch immer ein Thema war. Auch gerade, wenn aktuelle Geschehnisse in den Medien sind, die sind alle alt genug, um das halbwegs wahrzunehmen und dann auch Fragen zu stellen. Also, die sind, würde ich mal sagen, sehr gut auf das Thema vorbereitet und die wissen, dass da nix Gutes zu finden ist. Und ich glaube und hoffe auch, dass die sich grundsätzlich für einen anderen Weg entscheiden und nicht vor dieser Situation stehen.

Deutschlandradio Kultur: Kann man das denn so kleinen Kindern auch schon erklären?

Ingo Hasselbach: Ja, kann man schon. Gerade bei meinen Kindern ist das immer ein Thema gewesen. Die sind auch immer interessiert gewesen daran und haben sich auch ganz früh lustigerweise immer mit Freunden umgeben, die entweder zweisprachig waren oder aus anderen Ländern kamen. Von daher ist es relativ einfach in meinem Fall gewesen, dass man da eine Aufklärung auch betreibt.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Sie glauben, die sind jetzt immunisiert?

Ingo Hasselbach: Nein, das glaub ich nicht. Ich glaube, das kann man nicht ausschließen. Das weiß ich selber aus meiner eigenen Geschichte oder auch anhand von Freunden im Umfeld. Da sind immer wieder Überraschungen möglich. Aber ich denke, man kann trotzdem sehr, sehr früh einen Grundstein legen, der zumindest versuchen würde das zu verhindern beziehungsweise dass das, selbst wenn sie sich dafür entscheiden, in diese Richtung zu gehen, trotzdem nur eine kurze Phase ist, die man mal ausprobiert. Das ist ja auch meine Erfahrung in den Jahren, die ich in der Szene war, dass wir unglaublich viele Jugendliche haben, die da mal eine Woche reingehen, gucken und denken, ja, was geht denn hier ab – und hauen wieder ab.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie sind damals reingerutscht, wie Sie gesagt haben. Was war der Auslöser? Können Sie das auf den Punkt bringen, wo Sie sagen, das war echt die gefährliche Nummer, das hat einfach überhaupt nicht funktioniert? Lag es an der Familie? Lag es am Umfeld?

Ingo Hasselbach: Nee, meine Familie würde ich heute überhaupt nicht mehr, auch wenn ich das eine zeitlang gemacht habe, sozusagen dafür zur Verantwortung ziehen. Das ist vielmehr meine eigene Geschichte mit DDR-Gefängnissen. Was in der DDR ja passiert ist, ist, dass die ganz viele Jugendliche auf eine Station gepackt haben mit Kriegsverbrechern. Da ist bei mir zum Beispiel der große Einfluss gewesen und auch der Hass gegen die DDR, eingesperrt sein, nicht in Freiheit leben können, sodass wir uns immer mehr als Opposition gegen die DDR verstanden haben. Und die konnte aus unserer Sicht nur von rechts kommen.

Deutschlandradio Kultur: Es hat ja einen Grund, dass wir heute mit Ihnen diese Sendung machen. Am Donnerstag haben ja die Innenminister von Bund und Ländern beschlossen, V-Leute aus den Spitzen der NPD abzuschalten – eine Voraussetzung für ein mögliches NPD-Verbot. Halten Sie denn so ein NPD-Verbot für den richtigen Weg, um den Rechtsextremismus zu bekämpfen?

Ingo Hasselbach: Da hat sich meine Meinung in den letzten Jahren immer mal wieder geändert, muss ich sagen. Aber mittlerweile, gerade auch in Anbetracht der Zwickauer Terrorzelle, wo wir sehen, dass es da eine völlig neue Dimension gibt, bin ich mittlerweile doch ein Befürworter vom
NDP-Verbot, weil ich glaube, dass man diesen Gruppierungen jede Chance nehmen muss, einen legalen Background zu haben, und das ist die NPD, selbst wenn sie natürlich nicht nachweisbar Kontakte jetzt hat, aber sie ist in jedem Fall das legale Aushängeschild dieser Terroristen. Man muss diesen Leuten den Boden unter den Füßen wegziehen. Das ist das Einzige, was man machen kann.

Deutschlandradio Kultur: Das haben Sie vor ein paar Jahren noch anders gesehen. Ich kann mich erinnern, Sie haben dem ‘Spiegel’ mal ein Interview gegeben, haben gesagt, NPD-Verbot ist ganz falsch, da gehen die nur in die Illegalität. – Das sehen Sie heute anders?

Ingo Hasselbach: Das sehe ich heute anders, absolut, ja. Ich habe das damals so gesehen, aber dieser Weg in die Illegalität ist ja offensichtlich trotzdem geschehen. Von daher ist es ein ganz wichtiger Punkt, dass man jetzt anfängt, wirklich da konkret was zu unternehmen.

Deutschlandradio Kultur: Was heißt denn, “konkret was unternehmen”? Wenn man beispielsweise die Parteienfinanzierung weg bekäme von der NPD, wäre da irgendjemandem geholfen?

Ingo Hasselbach: Ich meine, dieses Argument zieht ja letztlich nicht. Ich meine, man zieht einer Partei die Finanzierung weg, das ist für mich weniger rechtsstaatlich als alles andere, sozusagen zu sagen: Die Partei kriegt Geld und die Partei kriegt kein Geld. Das funktioniert für mich nicht. Das sehe ich nicht so. Ich denke, man muss ganz rigoros sein. Mit Hasspredigern gehen wir nicht anders um. Da greifen rechtsstaatliche Mittel. Da greifen justiziable Mittel. Das ist der Weg, glaube ich, wie man mit denen umgehen muss. Es ist einfach die Zeit des Redens da vorbei.

Deutschlandradio Kultur: Also, harte Kante und klar das Gesetz gelten lassen?

Ingo Hasselbach: Absolut. Wir haben genug rechtsstaatliche Mittel, das zu machen.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt haben Sie vorher kurz gesagt, es gäbe mit der Zwickauer Zelle eine neue Dimension. Wie vergleichen Sie das mit dem, was Sie vor 20 Jahren gemacht haben? Sie waren ja auch nicht jemand, der da irgendwie mit zarter Hand zugegriffen hat. Sie haben auch zugeschlagen. Sie haben auch Gewalt ausgeübt. Sie sind verurteilt worden. – Aber was ist die neue Dimension heute?

Ingo Hasselbach: Die neue Dimension ist, dass hier Menschen ganz gezielt mit dem terroristischen Hintergrund getötet werden, dass sich da eine Gruppierung zusammengefunden hat, die sich ganz klar zum Ziel gesetzt hat, mit Terrorismus Sachen zu verändern. Das ist der Unterschied. Das gab’s Anfang der 90er nicht. Es gab immer mal so Einzelfälle in den 80ern vielleicht, aber es gab nie in dieser Dimension, auch mit dieser Langfristigkeit, mit dieser Perfektion, mit der die gearbeitet haben – das gab’s nie.

Und diese NSU, das sieht man auch, wenn man mal ins Internet guckt auf die rechten Webseiten,
die sind alle Helden mittlerweile. Da wird empfohlen, dass man denen nacheifert, dass dieser Weg gangbar ist, dass Gewalt letztlich doch ein Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele sein kann.

Deutschlandradio Kultur: Hätten Sie sich denn das vorstellen können, dass es so etwas wie den NSU gibt? Es haben ja viele gesagt, totale Überraschung, hab ich mir überhaupt nicht vorstellen können, gilt das für Sie auch?

Ingo Hasselbach: Als ich 1993 aus der Szene ausgestiegen bin, hatte ich monatelang beim BKA gesessen und habe eine Lebensbeichte abgelegt, das haben Sie auch in der Anmoderation schon gesagt, und habe sehr klar darauf hingewiesen, ehrlich gesagt, dass da Strukturen entstehen, die nicht mehr kontrollierbar sind. Ich bin ja zu einer Zeit ausgestiegen, wo wir angefangen haben – nach den großen Parteiverboten von ’93 – uns ganz klar mit rechtsterroristischen Gedanken zu beschäftigen. Wir haben angefangen, Planungen zu machen: Wie finanziert man das, was ist der Hinterhalt in der Öffentlichkeit, in der Legalität? Wo kriegt man Papiere her? – All diese Sachen sind ’94, ’95, ’96 angedacht worden. Diese Hinweise habe ich damals in meinen Aussagen dem BKA gegeben. Deshalb war für mich, als jetzt alle darstellten, das ist eine große Überraschung, zumindest, was die Behörden angeht, dann eher die große Überraschung, dass die nichts gewusst haben wollen.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, große Überraschung? Sie waren eigentlich ziemlich irritiert, dass trotz Verfassungsschutz, trotz Beobachtung niemand da war, der dieses Tun dieser Zwickauer Zelle über die Jahre, irgendwie handfest machen konnte?

Ingo Hasselbach: Absolut, mehr als irritiert, ja, kann man so sagen.

Deutschlandradio Kultur: Haben die versagt?

Ingo Hasselbach: Ja natürlich, das kann man natürlich jetzt so auf den Punkt bringen im Rückblick, dass die versagt haben, auch, wenn man da jetzt so hört, was da immer mehr hochkommt, dass der Verfassungsschutz da sehr wohl Kenntnis hatte. Also, von Versagen kann man da absolut reden.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Sie und Ihre damaligen Kumpels waren auch auf den Weg dahin, Rechtsterroristen zu werden? Würden Sie das so sagen wollen?

Ingo Hasselbach: Ja. Also, die Gruppe, in der ich zum Schluss war, die hießen die “Sozialrevolution Nationalisten”. Die sind von der Bundesanwaltschaft nach meinem Ausstieg als terroristische Vereinigung eingestuft worden. Da gab’s Ermittlungsverfahren, die nirgendwo hinführten, aber zumindest hat die Bundesanwaltschaft diese Gruppe ganz klar als terroristisch anerkannt. Und natürlich waren wir die.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben gesagt, es wären neue Strukturen entstanden, wie Sie sie sich in der Zeit, als Sie in der Neonaziszene waren, nicht vorstellen konnten. Sind das wirklich neue Strukturen oder sind das mittlerweile Einzeltäter, die über das Netz sich möglicherweise irgendwie einer Verbindung zugehörig fühlen, aber überhaupt nicht mehr diese Kameradschaften brauchen, sondern als Einzeltäter dann irgendwann losschlagen? Ist das die neue Qualität?

Ingo Hasselbach: Ich meine, die rechte Szene hat ja immer in einem Zellensystem funktioniert. Gerade was den Untergrund angeht, das war immer gewollt und auch so konzipiert von der NSDAP/AO aus den USA heraus, die dafür Handbücher angelegt haben, dass man halt im Prinzip als einzelne Zelle in einer Stadt agiert, aber trotzdem auf ein großes Netzwerk zurückgreifen kann. Das ist immer so angedacht gewesen. So sind die Leute ausgebildet worden. So haben wir damals angefangen uns damit auseinanderzusetzen.

Wenn man von einer Dreimannzelle redet, die können nicht unabhängig von einer Unterstützung auch von außen agieren. Das ist unmöglich. Das ist nicht zu schaffen, weil man wirklich gewisse Strukturen einhalten muss. Die kriegt man eigentlich nur, wenn man von außen Unterstützung hat.

Deutschlandradio Kultur: Unterstützung in welchem Sinne? Sie meinen, auch materielle Unterstützung, finanzielle Unterstützung oder nur ideologische Unterstützung?

Ingo Hasselbach: Nee, nee, ich rede in erster Linie von materieller und finanzieller Unterstützung, von dem Hinterhalt, den die Leute auch haben, wo sie motiviert sind, drin zu bleiben. All diese Sachen sind wichtig.

Deutschlandradio Kultur: Herr Hasselbach, reden wir mal über die Größenordnung. Wir können nur schätzen, aber es heißt, dass 25.000 Menschen hier in Deutschland zum rechtsextremen Spektrum gezählt werden. Und 5.600 gelten als Neonazis, die sich in Kameradschaften organisieren oder in diesen Zellen, wie Sie das beschrieben haben.

Interessanterweise ist nach wie vor ein Schwerpunkt dieser rechtsextremen Gewalt Ostdeutschland – Sie selber sind in Ostberlin geboren -, 20 Jahre nach der Einheit immer noch. Wie erklären Sie sich das?

Ingo Hasselbach: Na ja, das hat natürlich mit dem Aufwachsen der Leute zu tun, wo die Leute herkommen, dem Hintergrund. Wenn man aufwächst in einem System, was relativ hierarchisch angelegt ist, diktatorische Züge teilweise hat.

Deutschlandradio Kultur: Das ist aber 20 Jahre her.

Ingo Hasselbach: Ja, aber trotzdem, die Leute haben ja ihre Kindheit unter Umständen da noch verlebt, sind durch die Jugendorganisationen da gegangen, sind von Organisationen geprägt worden. Das ist schon was, was man, glaub ich, für sein Leben mitnimmt. Ich habe auch eine ganze Weile gebraucht, um das abschütteln zu können, muss ich sagen.

Deutschlandradio Kultur: Aber für Sie war es ja diese Opposition gegen die DDR ein Stück weit.
Was ist es denn dann heute, wenn es die DDR nicht mehr gibt?

Ingo Hasselbach: Na, das ist natürlich wieder eine Opposition. Was anderes ist es auch wieder nicht. Das ist eine Opposition gegen dieses System. Das Problem ist natürlich, dass diese Jugendlichen, die heute in den Organisationen sind, also, die Szene ist ja irrsinnig in der Lage, eine Jugendpolitik zu machen. Wenn man anguckt, was die NPD so macht, die sind in der Lage, da so ein Vakuum zu füllen, was in diesem Staat leider vorhanden ist, eine wirkliche Jugendarbeit. So werden die halt erst mal von der Szene so ein bisschen angejunkt, dass die da hingehen nachmittags, Filme angucken, Musik hören. Stepp für Stepp kommt man in die Szene und irgendwann ist man politisiert.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir mal davon ausgehen, dass es Rechtsextreme gibt, die auch wirklich gewaltbereit sind, die in einem geschlossenen Weltbild leben, kommt man an die überhaupt ran? Sie haben ja selbst genügend Erfahrung gemacht. Sind die in einer geschlossenen Welt und alle Aussteigerprogramme, alle Versuche mit Jugend-, Sozialarbeit prallen ab wie ein Wassertropfen an der Scheibe?

Ingo Hasselbach: Das stimmt ja nicht. Jugendarbeit halte ich nach wie vor für einen großen Punkt, wo man ansetzen muss. Diese ganzen Projekte, die in den neuen Bundesländern so laufen, mal für drei, vier Monte und dann leider aus finanziellen Gründen immer wieder auslaufen, das ist das große Problem, dass diese Projekte alle nicht kontinuierlich arbeiten. ‘Exit’ ist ja auch ein Projekt, was ständig um Finanzierung kämpft. Und da, denke ich mal, ist der große Ansatz. Man muss halt an dieser Szene dranbleiben. Man kann die nicht aufgeben.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben Sie noch mal an diesen gewaltbereiten Rechtsextremen, die tatsächlich zuschlagen, die vielleicht etwas älter sind, nicht 14, nicht in Jugendhäuser gehen, sondern die tatsächlich Gewalt ausüben wollen.

Gibt es irgendeine Form Ihrer Meinung nach, an diese Leute heranzukommen? Oder muss man einfach abwarten, bis deren ideologisches Weltbild irgendwo aufbricht, damit man überhaupt eine Chance hat, da reinzukommen?

Ingo Hasselbach: Wenn man länger als ein Jahr in dieser Szene ist, dann wird das relativ schwer, an diese Leute ranzukommen. Dann hat sich da was verfestigt. Und dann müssen die unter Umständen einen Weg gehen, wo sie auch Erfahrungen machen, die wehtun – sprich, dass die mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Das ist für viele so ein Knackpunkt noch mal, wo bei denen noch mal was passiert. Dann von außen auf die Leute Einfluss zu nehmen, ist relativ schwer.

Deutschlandradio Kultur: Sie hatten gesagt, Jugendzentren würden geschlossen werden oder seien kurzfristig nur mal anberaumt. Nun waren ja zum Beispiel in Jena diese heute bekannten drei Täter dort zunächst verankert auch, waren in einem Jugendzentrum in Jena-Lobeda, wurden auch betreut von Sozialpädagogen. Es war nicht so, dass diese drei es so furchtbar schwer gehabt hätten beispielsweise. Trotzdem haben sie sich so entwickelt.

Ingo Hasselbach: Na ja, aber das war auch zu einer Zeit, wo die Szene sich gerade nach den großen Parteiverboten in den 90er-Jahren komplett neu strukturiert hat, wo die Jugendklubs teilweise von der rechten Szene übernommen wurden. Das muss man auch mal sehen. Das ist ja auch in Jena ganz klar passiert, dass die Szene diese Klubs übernommen hat. Da muss man natürlich auch an die Sozialarbeiter herantreten und sagen: Okay, wenn ihr merkt, dass so was passiert, muss man da halt umstrukturieren. Dann muss man halt mehr Sozialarbeiter dazu holen. Man muss sich dann halt auch ganz klar gegen wehren, dass so was passiert.

Deutschlandradio Kultur: Wie haben Sie das denn geschafft? Sie waren ja ein überzeugter Neonazi. Und irgendwann gab’s den Punkt, wo Sie sagten: Jetzt ist Schluss. – Da muss es ja irgendwo ein Schlüsselerlebnis gegeben haben, das es bei der Zwickauer Zelle offensichtlich nicht gab.

Ingo Hasselbach: Für mich war das schon ein längerer Prozess. Bei mir gab’s einen Filmemacher,
der damals angefangen hat, eine Reportage für Frankreich zu drehen, für einen französischen Fernsehsender zu drehen über ein Jahr hinweg, mit dem ich mich im Prinzip angefreundet habe und über den ich mich während der Dreharbeiten immer mehr von der Szene entfernt habe, weil der mich auch infrage gestellt hat permanent mit allem, was ich gemacht habe.

Deutschlandradio Kultur: Aber als Sie ihn kennen lernten, hatten Sie noch keine Zweifel?

Ingo Hasselbach: Nö, überhaupt nicht. Das war für mich undenkbar, dass das Ende dieser Dokumentation nach zehn oder elf Monaten Dreharbeiten sein könnte, dass ich aus dieser Szene rausgehe. Aber das ist es, was ich meine. Der Einfluss, der Mann, der da von außen kam, der im Prinzip auch nicht wusste, was er da macht, der wusste auch nicht, wo das hingeht, der war für mich der Anker. Der hat mich da rausgezogen. Zumindest hat er Denkanstöße geliefert. Die hat Sachen infrage gestellt. Der hat nicht Sachen einfach unkommentiert hingenommen.

Deutschlandradio Kultur: Was aber bedeutet, man soll den Faden nicht abreißen lassen. Auch Eltern sollten den Faden nicht abreißen lassen.

Ingo Hasselbach: Das ist ja das, was ich vorhin gesagt habe. In dem Moment, wo man diese Jugend oder die Leute der Szene überlässt, dann ist es vorbei. Wenn man sagt, die Tür ist jetzt zu, das ist der absolut falsche Weg. Es gibt natürlich Grenzen. Es gibt Leute wie Christian Worch, die dann mit 30, 35 noch aktiv sind. Da wird man nicht mehr viel erreichen. Die Leute gehen ihren Weg dann und da kann man nichts mehr machen. Aber alles, was da drunter ist, da muss man dran bleiben – auf jeden Fall.

Deutschlandradio Kultur: Sie waren anscheinend da offen, sich für neue Argumente auch zu öffnen. Wenn das nicht der Fall ist, dann können Sie nicht als Sozialarbeiter in diese Gruppe reingehen und denen sagen, die Welt müsste eigentlich besser organisiert sein. Was müssen das für Leute sein, die dann hinkommen und die Leute, die wirklich in einer falschen Welt leben, irgendwie abzuholen?

Ingo Hasselbach: Für mich war natürlich die Person, die da aus einer völlig anderen Welt kam, das Interessante. Das muss ich schon sagen. Diese Szene hat halt einen Sektencharakter. Das ist sicherlich auch hart für Sozialarbeiter, weil die sicherlich auch noch ein anderes Leben haben, aber man muss da teilweise schon was aufgeben, um an den Leuten dranbleiben zu können und die eben nicht loszulassen.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt leben Sie heute nicht mehr in Deutschland, aber beobachten noch, auch über diese Aussteigerorganisation ‘Exit’ die Entwicklung und die Veränderungen, die es hier in Deutschland gibt. Wie würden Sie denn die Situation im Moment einschätzen? Was hat sich denn verändert in den 20 Jahren? – Die Organisation? Ist das mehr das Internet, was die Leute zusammenbringt? Wo muss man ansetzen, um sozusagen “wehret den Anfängen”, also auch Taten folgen zu lassen?

Ingo Hasselbach: Die erste große Veränderung, die man in den letzten zehn Jahren feststellen konnte, ist, dass eigentlich die gesamte Szene sich unter einem Dach wiedergefunden hat. Und das ist in dem Fall nun mal die NPD. Das war zu anderen Zeiten ein Wunschtraum. Zu meiner Zeit waren wir aktiv in zehn, 20 verschiedenen Organisationen. Kühnen hat immer davon geträumt, dass man eine Organisation hat. – Das ist jetzt der Fall zum Beispiel. Das ist wohl auch die Gefahr, dass es eine große Dachorganisation gibt, in der sich alle treffen. Alle früher verstrittenen radikalen Organisationen sind da drin organisiert.

Das Zweite ist natürlich, die ganze Kommunikation ist viel einfacher geworden – Internet, E-Mail ist
ja in der Tat immer noch ein rechtsfreier Raum. Gehen Sie mal auf die Seiten. Da wird Ihnen schlecht. Da ist Volksverhetzung vom Allerfeinsten im Gange. Dass da nicht strafrechtlich viel mehr unternommen wird, dass solche Seiten nicht ausgeschaltet werden! Da kannst du alles abrufen, die ganzen Propagandamittel. Das ist alles immer im Prinzip in Sekunden zu kriegen, wo wir früher halt konspirativ Briefe verschickt haben.

Die Welt ist so viel schneller und einfacher für die geworden. Und die nutzen natürlich alles, was es gibt – iPad, iPhones. Da ist alles ein Geschenk für diese Szene.

Deutschlandradio Kultur: Also hat es im Grunde der nicht mehr Vorsitzende Udo Voigt der NPD ja geschafft, diese freien Kameradschaften da mit reinzuziehen in die NPD.

Ingo Hasselbach: Genau, das hat er geschafft mit sehr großem Erfolg. Schauen Sie sich Leute an, wie Christian Worch. Der hätte sich vor 15 Jahren nicht träumen lassen, dass er mal unter Udo Voigt in eine Organisation einsteigt.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie jetzt sagen, dass über das Internet diese Organisationen relativ schnell und gut zu strukturieren sind – rechtsfreier Raum, wie Sie das beschrieben haben, könnte man das Ding ja auch umdrehen und sagen: Na, Leute, da müsst ihr den Fokus legen, wenn ihr das verhindern wollt. Ihr müsst verstärkt im Internet aktiv sein, um genau frühzeitig dort einzugreifen.

Ist das der Ansatzpunkt, wo Sie heute sagen würden, das ist was anderes als es vor 20 Jahren vielleicht gemacht wurde?

Ingo Hasselbach: Internet ist sicherlich ein wichtiger Puzzlestein in dieser ganzen Kombination, um dagegen was Effektives zu unternehmen – sicherlich, ja.

Aber ich frage natürlich: Wie willst du das im Internet machen? Ich habe mich auch mal an so Foren beteiligt. Da läufst du auch gegen Bäume. Es ist vielmehr die Frage: Wie lange duldet man Seiten mit Runen und mit Hakenkreuzen, ob man diese Seiten nicht einfach aus dem Verkehr zieht?

Deutschlandradio Kultur: Das liegt daran, weil die im Ausland gehostet werden. Dann, heißt es bei den deutschen Behörden, kommen wir nicht ran.

Ingo Hasselbach: Ja, mir ist schon bewusst, welche Auflagen es gibt.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt haben Sie vorher erzählt, wie Sie rausgekommen sind mithilfe des Filmemachers. Was mich interessieren würde: Was hat sich denn dann im Anschluss an Ihr Weltbild verändert? Haben Sie da noch mal richtig nachgetrauert, nachgearbeitet? Sind Sie in eine Therapie gegangen? Wie hat sich das verändert, dass Sie sagen, ich hatte ja ein völlig anderes Weltbild und mit 23 plötzlich und den Jahren danach mache ich ein völlig anderes Leben? Ich gebe das ab wie ein altes Kleiderstück an der Garderobe, fange an eine Familie zu gründen, drei Kinder, spiele ein bürgerliches Leben, drehe Filme, komme auf die andere Seite – wie geht das? Das geht doch sicherlich nicht so von heute auf morgen.

Ingo Hasselbach: Nee, das ist natürlich ein langer Prozess gewesen. Das klingt ja so im Rückblick, als ob das alles innerhalb von einer Woche passiert ist. Mittlerweile bin ich fast 20 Jahre draußen. Das ist eine lange Zeit und es war auch ein langer Weg für mich.

Ich bin nach meinem Ausstieg – und das ist das Beste, was ich je gemacht habe – sofort ins Ausland zum Beispiel gegangen, also, habe einen gewissen Abstand auch gesucht, habe angefangen, in Paris, in Montmartre mit anderen Kulturen zusammengelebt, also mit Leuten, über die ich jahrelang gehetzt habe, von denen ich aber eigentlich gar nichts wusste, habe ich festgestellt, sodass es einfach auch eine Bereicherung für mein Leben war. Also, es ist ein Step-by-Step-Prozess. Es ist was passiert. Man entwickelt sich. Man wird älter. Man sieht Sachen anders. Man lernt dazu. Das ist schon auch ein harter Kampf und eine Auseinandersetzung mit einem selbst. Und das ist auch jeden Tag eine Prüfung wieder.

Dann hab ich auch Unterstützung gehabt, die man auch anderen wünschen würde, dass sie die auch kriegen können, wie Horst-Eberhard Richter beispielsweise, der Psychoanalytiker, der mich da durchaus zwei Jahre auch mal an die Hand genommen hat und auch mit mir Sachen durchgearbeitet hat, meine ganzen Widersprüche, meine Ideologie hinterfragt hat, wo kam das her, also, der da sehr, sehr konkret Fragen gestellt hat, auch noch den Finger auf die Wunde gelegt hat.

Nur so, denke ich mal, wird es letztlich gehen, wenn man in so einer exponierten Stellung war, wie ich es war.

Deutschlandradio Kultur: Können Sie denn in gewisser Weise jetzt denjenigen, die in der Szene noch drin sind, … haben Sie zu denen dann eher einen Draht und können da helfen? Oder geht das nicht?

Ingo Hasselbach: Na ja, das ist so eine Sache mit dem Draht haben. Ich denke mal, dass ich viel mehr verstehe. Das ist wahrscheinlich richtig. Aber meine Möglichkeiten, Hilfe zu leisten, sind relativ begrenzt, weil auf der anderen Seite natürlich auch eine permanente Bedrohung damit einhergeht.

Deutschlandradio Kultur: Ist das heute noch so?

Ingo Hasselbach: Ja. Vor zwei Jahren ist meine Mutter gestorben. Die ist in Lichtenberg beerdigt worden. Das hat sich in der Szene rumgesprochen. Es kam dann dazu, dass meine Kinder mit der Polizei zur Beerdigung der Oma gefahren sind und der Friedhof abgesperrt war. Also, es passiert immer noch. Auch, wenn man im Internet guckt, immer wieder taucht mein Name auf. Das ist nicht vergessen.

Da ist für mich einfach, auch durch die Verantwortung, die ich meinen Kindern heute gegenüber habe, so ein Schutzmechanismus da, das ich sage: Okay, das kann ich machen, soweit gehe ich, aber darüber hinaus will ich es dann doch nicht machen.

Deutschlandradio Kultur: Also, Sie glauben, das ist nicht vergessen, obwohl es doch heute andere Akteure sind.

Ingo Hasselbach: Es sind andere Akteure, das ist durchaus richtig. Und die meisten der Leute, die heute aktiv sind, waren damals vielleicht gerade geboren. Aber wenn ich es verfolge im Internet, sehe ich ganz klar, dass mein Name immer noch ein rotes Tuch ist.

Deutschlandradio Kultur: Aus Sicherheitsgründen könnte man sich ja vorstellen, dass Sie sagen,
ich will damit gar nichts mehr zu tun haben. Ich möchte mein Privatleben leben im europäischen Ausland. Die Jungs sollen mich nicht mehr finden, mich nicht mehr belasten. – Sie tun es nicht. Sie sind bereit, auch noch mal immer Position zu beziehen, wie heute auch in diesem Interview.

Was bewegt Sie da? Warum tun Sie das und warum tun Sie das auch mit einem gewissen Risiko, weil Sie ja wieder teilweise an die Öffentlichkeit gehen?

Ingo Hasselbach: Ich habe ja zehn Jahre nix mehr gemacht. Ich habe mich zehn Jahre komplett zurückgezogen, weil ich einfach auch nicht als Beruf Ex-Neonazi sein wollte. Es war dann auch so eine bewusste Entscheidung, wo ich mich um mich gekümmert habe. Für mich waren eigentlich
schon diese Ereignisse um die Zwickauer Zelle jetzt noch mal ein einschneidendes Erlebnis, wo ich dachte: Das ist einfach nicht vorbei dieses Thema, im Gegenteil, es wird schlimmer.

Dann dachte ich einfach, dass ich mit meinem Hintergrund schon da auch eine gewisse Verantwortung habe, mich dazu ganz konkret auch noch mal zu äußern und Sachen zu sagen und damit an die Öffentlichkeit zu gehen, weil ich halt nicht möchte, dass wir dieses Land diesen Typen überlassen.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie eigentlich auch mal die Opfer um Vergebung gebeten?

Ingo Hasselbach: Es gibt keine konkreten Opfer in meinem Fall.

Deutschlandradio Kultur: Aber schon, Leute, die verprügelt wurden, sind doch schon auch Opfer.

Ingo Hasselbach: Ich meine, es gibt niemanden. Ich habe diese Leute alle mal irgendwie wieder getroffen – sei es in den Gerichtsverhandlungen, sei es in anderen merkwürdigen Situationen, wo
ich auch wieder in Auseinandersetzungen gekommen bin. Um Vergebung habe ich die nie gebeten. Das kann ich auch nicht. Das funktioniert so nicht. Das ist eine Art von Gewalt, da kannst du nicht mehr um Vergebung bitten. Das ist einfach was, wo man eigentlich nur hoffen kann, dass die Leute sagen, okay, du bist jetzt eine andere Person.

Deutschlandradio Kultur: Gab’s das?

Ingo Hasselbach: Das gab es, ja, sehr konkret.

Deutschlandradio Kultur: Ich habe gestern auf Ihre Facebookseite geguckt. Da empfehlen Sie die Bibel als Lieblingsbuch.

Ingo Hasselbach: Ja, die Bibel gibt ‘ne Menge her, was im Leben Sinn macht. Also, ich bin kein religiöser Mensch geworden. Das wird sicherlich auch nicht mehr passieren. Aber es gibt eine ganze Menge Sachen, was gerade Menschlichkeit angeht und so, wo man in der Bibel vielleicht noch mal nachlesen kann und vielleicht auch darüber Inspiration findet.

Deutschlandradio Kultur: Gibt’s da irgendwas Konkretes?

Ingo Hasselbach: Nee, ich kann Ihnen keine Verse jetzt hier nennen, aber es gibt Sachen, wo ich, wie ich die gelesen habe, einfach dachte, gerade zum Thema Miteinander, Menschlichkeit, da kann man doch eine Menge finden, wenn man es will.

Deutschlandradio Kultur: Also, Religion hat dann auch einen Stellenwert in Ihrem Leben?

Ingo Hasselbach: Wie schon gesagt, ich bin nicht religiös geworden, aber ich fand die Bibel als Buch auf dem Weg in eine neue Welt, das war es ja für mich auch, schon wichtig.

Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank.

Textabdruck mit freundlicher Genehmigung von Deutschlandradio