Offener Brief an Frau Dr. Merkel: Förderung von EXIT erneut unklar
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrte Frau Dr. Merkel,
mit Beschluss der Bundesregierung sollten 2013 die Voraussetzungen geschaffen werden, die Initiative EXIT-Deutschland im Bundesinteresse – im Zusammenhang mit dem Verzicht auf den Antrag des NPD-Verbots – grundlegend zu sichern. Auf Initiative der damaligen Ministerin Dr. Kristina Schröder engagierten Sie sich – Frau Bundeskanzlerin – persönlich, ebenso wie der damalige Kanzleramtsminister Ronald Pofalla sowie die damalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Sie haben sich dafür eingesetzt, dass in Bezug auf die Förderung von EXIT darüber nachgedacht wurde, „wie sie diese erfolgreiche und anerkennenswerte Arbeit, die da gemacht werde, weiter betreiben könnte“, so Ihr Regierungssprecher auf der Bundespressekonferenz am 20. März 2013.1
Die damalige Familienministerin Schröder äußerte sich dazu wie folgt: „Für die Bundesregierung ist es selbstverständlich, das zivilgesellschaftliche Engagement gegen Rechtsextremismus weiter im bisherigen finanziellen Umfang mit Bundesmitteln zu unterstützen und damit nachhaltig zu stärken.“ Und weiter: „Darüber hinaus werden wir als Bundesfamilienministerium die Arbeit des bundesweiten Aussteigerprogramms EXIT zukünftig so mit Bundesmitteln unterstützen, dass es seine wichtige Arbeit dauerhaft fortsetzen kann.“2 Die Forderung: „EXIT endlich langfristig sicher“ erhob auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Sönke Rix im März 2013.3
Bereits im „Dialog über Deutschlands Zukunft. Ergebnis des Expertendialogs der Bundeskanzlerin 2011/2012“ ist zu lesen: „Spätestens die Morde der NSU-Gruppe haben deutlich gemacht, wie bedeutsam für die Prävention ein zuverlässiges und nachhaltiges Ausstiegsprogramm in Zukunft sein wird […]. Weiterführende Hinweise: Exit-Programme: Gibt es in diversen europäischen Ländern, mehr oder minder gut abgestimmt. In Deutschland erfolgreich: www.exit-deutschland.de“4
Zur Finanzierung von Initiativen gegen Rechtsextremismus äußerte sich der NSU-Ausschuss des Deutschen Bundestages im Jahr 2013 wie folgt: „Der Ausschuss spricht sich mit Nachdruck für eine Neuordnung der Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus aus, die für Verlässlichkeit sorgt und Planungssicherheit bietet.5 Auch äußern sich die Ausschussmitglieder grundsätzlich zur Förderung von EXIT-Deutschland:
- „Das Aussteiger-Programm „EXIT-Deutschland“ soll auch nach Auslaufen der Förderung durch den Europäischen Sozialfonds weiter vom BMFSFJ unterstützt werden.“ (Bericht der Bundesregierung vom 26. April 2013, A-Drs. 463, S. 42.)6
- „Die Maßnahmen zur Stärkung der gesellschaftlichen Prävention, insbesondere die Aufstockung der Mittel für die politische Bildung und die Ausdehnung des bisher auf die östlichen Bundesländer begrenzten Programms „Zusammenhalt und Teilhabe“ auf alle strukturschwachen Räume in Deutschland sowie die weitere Förderung des Aussteigerprogramms „Exit“.“7
- „Der Verfassungsschutz im Bund wird reformiert, wichtige Programme, wie das Aussteigerprogramm EXIT, werden weiter unterstützt und die Bekämpfung des Rechtsextremismus vorangetrieben.“8
- „Sowohl die längerfristige Prävention durch ehrenamtliche Vereinstätigkeit und Initiativen, als auch die zur Verfügung stehenden und verhältnismäßigen polizeilichen wie justiziellen Maßnahmen gegen identifizierbare Feinde unserer Verfassung finden die Unterstützung der FDP. Das gilt auch für die Jugendsozialarbeit, eine stärker demokratisch, wertorientierte Erziehung, Präventionsnetzwerke oder die Förderung von Vor-Ort-Initiativen. Die von der FDP durchgesetzte Fortführung der finanziellen Unterstützung für das Aussteigerprogramm „EXIT“ durch die Bundesregierung ist hierbei ein wichtiger Schritt.“9
Für EXIT-Deutschland war damit die Hoffnung und Planung verbunden, dass die Finanzierung aus dem Modellförderungs- und Bundesprogrammbetrieb herausgenommen und strukturell wie finanziell auf Dauer angelegt wird.
Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. EXIT-Deutschland steht heute neuerlich vor der Frage, wie eine Ausstiegs- und Deradikalisierungsarbeit für hochradikalisierte und militante Rechtsextremisten aus bundesweiten Strukturen ab 2020 weitergeführt werden kann.
Ab Mai 2013 wurde EXIT-Deutschland als Sonderprogramm der Bundesregierung gefördert über das BMFSFJ, ab 2015 dort im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ in der Programmsäule „Förderung der Strukturentwicklung zum bundeszentralen Träger“ im Themen- und Strukturfeld „Ausstiegsberatung“ – und zwar als einziger Träger in diesem Feld.
Das Themen- und Strukturfeld „Ausstiegsberatung“ auf Bundesebene kommt im neuen Programm ab 2020 nicht mehr vor.
Die Schwerpunktsetzung des Programms auf der Ebene des Bundes liegt auf „Vielfaltgestaltung“ mit 7 Handlungsfeldern gegenüber der Demokratieförderung mit 3 Handlungsfelder und der Extremismusprävention ebenfalls mit 3 Feldern, die sich nochmals aufteilen auf die Phänomenbereiche Rechtsextremismus, Islamismus und Linksextremismus.
Der qualitativ vielgestaltige Extremismus, dem nicht nur indirekt sozial, pädagogisch und politisch, sondern auch unmittelbar deradikalisierend entgegengetreten werden muss, spielt insgesamt im Programm auf der Bundesebene nur noch eine unter- und nebengeordnete Rolle und soll lediglich präventiv bekämpft werden – als ob die Lage in allen drei relevanten Feldern nicht schon fortgeschritten genug wäre und zumindest eine Kombination von Prävention und deradikalisierender Intervention erfordern würde. Ein seit Jahren schon entwickelter bundesweiter Deradikalisierungsansatz ist politisch und fachlich nicht vorgesehen, eine Förderung von Distanzierungs- und Ausstiegsberatung wird lediglich kleinteilig auf Länderebene angesiedelt, als ob sich (Rechts-)Extremisten in ihrem Wirken im Zeitalter Europas und der Globalisierung je an politisch-administrative „Ländergrenzen“ gehalten hätten.
In der Programmgestaltung des BMFSFJ zeigt sich insgesamt ein eklatanter Mangel an sachlicher und rechtlicher Analyse und Strategie bezogen auf die relevanten Erscheinungsformen des Extremismus als antisystemische Gegenspieler der Demokratie. Es weitet die Grenzen des in Deutschland rechtlich gefassten Extremismusbegriffes unzulässig aus und instrumentalisiert ihn mit scheinbar „wissenschaftlichen Theorien“ für die Ausweitung der Wirkungsakteure im Sinne eigener parteipolitischer und ideologischer Interessen, gleichzeitig wird nur unzureichend auf die Erfordernisse der Zurückdrängung des militanten Rechtsextremismus eingegangen.
Der nunmehr 20-jährige, genau darauf abzielende, erfolgreiche Arbeitsansatz von EXIT-Deutschland mit mehr als 740 Aussteigern zur Sicherung demokratischer Kultur durch eine gezielte Auseinandersetzung mit dem global agierenden Rechtsextremismus einschließlich seiner Protagonisten mit dem Ziel der bewussten Abkehr extremistischen Weltvorstellungen und daraus entspringende Feindbilddenken und Gewalt, ist im Programm nicht vorgesehen und damit offensichtlich nicht gewollt.
Damit wird der Regierungsbeschluss vom März 2013 vorsätzlich konterkariert.
Es stellt sich die Frage nach dem Warum. An einem Rückgang des Bedarfes kann es nicht liegen, im Gegenteil, dieser ist unverändert hoch, wie nicht nur die jüngsten Berichte der Verfassungsschutzämter, sondern auch die aktuellen Ereignisse zeigen, wie im Mordfall Lübcke sichtbar wird.
EXIT-Deutschland passt nicht nur inhaltlich nicht in das Bundesprogramm, es besteht auch aufgrund der Konstruktion der geschaffenen Fördervoraussetzungen nicht die geringste Aussicht, eine Interessenbekundung auf Teilnahme am Programm mit einem Grad auf Erfolg abzugeben.
Auf der Ebene Bund sollen in den einzelnen „Handlungsfeldern“ sogenannte „Kompetenznetzwerke“ aus bis zu maximal 5 Rechtsträgern entstehen oder ein „Kompetenzzentrum“, das ein einziger Rechtsträger betreibt. Für das Handlungsfeld „Rechtsextremismus“ haben sich Träger für ein künftiges „Kompetenznetzwerk Rechtsextremismus“ formiert, das von diesen explizit ohne EXIT-Deutschland konzipiert wird, also ohne jedwede Kompetenzen in bundesweit agierenden Deradikalisierungs- und daran geknüpfter Ausstiegsarbeit. Überwiegend handelt es sich nach gegenwärtigem Erkenntnisstand um Träger, die sich in der ideologischen und politischen Propaganda profiliert haben, die sich nicht deradikalisierend an das rechtsextreme Akteursfeld richtet, eine Grundforderung, die bspw. im Phänomenbereich des Islamismus (im Verantwortungsbereich des Bundesinnenministeriums) überdies international, so im europäischen RAN-Kontext (Radicalisation Awareness Network*) umgesetzt wird und mit dem EXIT-Deutschland ebenfalls eng verbunden ist.
Der Status und die Finanzierung von EXIT-Deutschland nach 20-jähriger erfolgreicher nationaler und internationaler Tätigkeit sind also um ein weiteres Mal ungeklärt.
Eine Antwort auf unser Schreiben zum Sachverhalt an die Bundesministerin Giffey blieb bislang unbeantwortet. Ein solch starkes politisches Zeichen der Untätigkeit wird in der einschlägigen extremistischen Szene wohl registriert werden.
Da EXIT-Deutschland unter den vom BMFSFJ gesetzten Voraussetzungen am Bundesprogramm „Demokratie leben! in der Förderperiode 2020-2024 nicht teilnehmen kann – sowie vor dem Hintergrund der sich verschärfende Lage im Bereich Rechtsextremismus – fordern wir eine Fortsetzung der Finanzierung von EXIT-Deutschland gemäß der von Ihnen getroffenen Beschlusslage vom März 2013.
Um den Vorgang verwaltungstechnisch einleiten zu können, werden wir das BMFSFJ mit entsprechendem Antrag ansprechen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bernd Wagner
ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH
Geschäftsführer und Leiter EXIT-Deutschland
T-Online berichtet: Neue Förderregeln: Droht Exit jetzt das Aus?
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Fußnoten
1 O-Ton Regierungssprecher Steffen Seibert auf der Bundespressekonferenz am 20.3.2013
2 Pressemitteilung des BMFSFJ (2013) TOLERANZ FÖRDERN – KOMPETENZ STÄRKEN: „Wir für Demokratie“ – gemeinsam für eine tolerante und vielfältige Gesellschaft
3 Pressemitteilung der SPD Fraktion „EXIT endlich langfristig sichern“ Online verfügbar
4 Im Dialog über Deutschlands Zukunft. Ergebnis des Expertendialogs der Bundeskanzlerin 2011/2012“, S. 110-111. Online verfügbar
5 Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestag, S. 914 Online verfügbar
6 Ebd., S. 815
7 Ebd., S. 917
8 Ebd., S.949
9 Ebd., S. 1024
*Radicalisation Awareness Network: Mit dem Radicalisation Awareness Network will die EU-Kommission gegen Extremismus vorgehen. Das wichtigste Mittel ist dabei der fachliche Austausch von Praktikerinnen und Praktikern aus verschiedenen Staaten und Fachgebieten.