Verantwortung in einem verantwortungslosen System
Von Thomas
Eine der zentralen Fragen in der Rückbetrachtung auf den eigenen Lebensweg ist die nach der persönlichen Verantwortung. Es ist die Frage, ob man sich das Privileg gönnt, die Verantwortung für das eigene Tun auf seine Freunde, seine Umgebung, die Eltern, Großeltern, die schlechte Erziehung oder die Prägungen durch ein totalitäres System (in dem ein Teil der ostdeutschen Jugend sozialisiert wurde) zu schieben. Es ist eine wichtige Aufgabe des Aussteigers, diesem kurzzeitigen Gefühl, selbst zum Opfer geworden zu sein, keinen Raum zu geben.
Denn Opfer eines menschenfeindlichen Systems wie dem Faschismus sind niemals die gesunden heterosexuellen Weißen. Das klingt vereinfacht, möchte aber darauf hinweisen, dass ich niemals Opfer eines Systems sein kann, das die Wahnidee eines Übermenschen auf den Privilegien aufbaut, die mir ohne eigenes Zutun zugeflossen sind. Aber wo fängt es an, wird die berechtigte Frage heißen, ab welchem Ansatz dieses Weißseins ist der Mensch schuldig, kann der Mensch etwas für dieses Weißsein, dafür dass er gesund oder heterosexuell ist? Und schwingt in diesem Vorwurf, der sich gegen Eigenheiten des Menschseins richtet, die außerhalb seiner eigenen Verantwortung stehen, nicht eine Gefahr mit, die sich in genau dem Denken manifestiert, das wir im Dritten Reich erlebt haben? Sind Privilegien als Vorwurf geeignet? Das sind Fragen, die wir Deutschen uns auch im Bezug auf das Dritte Reich stellen müssen. Es gibt darauf nur eine Antwort: wenn wir erkennen, dass Privilegien Ungerechtigkeiten erzeugen, Menschenfeindlichkeit fördern und Diskriminierung und Herabsetzung vermehren, dann sind wir gefordert, diese Situation nicht zu ignorieren, sondern diese Privilegien bewusst zu reflektieren und Maßnahmen zu ergreifen, die solche Entwicklungen eindämmen, begrenzen und nicht entstehen lassen. Nichts kann ich dafür, weiß zu sein, aber ich kann mich dafür einsetzen, dass daraus keine Normen abgeleitet werden, die People of Color benachteiligen oder ihnen gar fundamentale Rechte des Menschseins und der Menschenwürde absprechen. Nichts kann ich dafür, gesund zu sein, aber ich kann mich dafür einsetzen, dass das Gesunde nicht zu einer Norm wird, die gehandicapte Menschen in der Gesellschaft im wortwörtlichen Sinne behindert. Zusehen, Wegschauen, Hinnehmen: das sind aktive Handlungen, die wir vollziehen. Sie sind für sich keine negativ besetzten Begriffe, die Negativität lastet ihnen an, sobald sie dort Anwendung finden, wo gegen Menschen vorgegangen wird, wo Strukturen getragen werden, die Grundlage von Diskriminierung sind. Wir werden nicht nur Täter, weil wir böse Dinge tun; wir werden Mittäter, wenn wir böse Dinge zulassen. Menschenfeindlichkeit entsteht nicht nur dort, wo sie sich aktiv Raum nimmt, sie breitet sich auch dort aus, wo wir ihr Raum geben, wo wir von unpolitisch und wertfrei sprechen. Wir als Menschen tragen die Verantwortung für alles Menschliche, Geschichtliche und Politische.
Thomas bewegte sich mehrere Jahre in der rechtsextremen Szene. Nach seinem Ausstieg engagiert er sich im Aktionskreis ehemaliger Rechtsextremisten | EXIT-Deutschland für Menschenrechte, Freiheit und Würde und gegen Rechtsextremismus.