31. Mai 2012

Von Mythen, Messern und Muslimen - Neues Buch widerlegt Sarrazin

“Deutschland schafft sich ab” fand Thilo Sarrazin in seinem Bestseller, und Arnulf Baring kommentierte in der BILD-Zeitung: „In der Sache kann Sarrazin niemand wiederlegen.“ Niemand? Doch. Ein interdisziplinäres Autor*innen-Team tut dies im Sammelband „Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz“ spannend und kenntnisreich.

Von Fabian Wichmann

Das Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin war mit seiner Erscheinung quasi ein Selbstläufer. Hohe Verkaufszahlen und kaum eine Diskussionsrunde, in der nicht über das Buch und die von Sarrazin niedergeschriebenen Integrationsdefizite und vermeidliche mangelnde Intelligenz von „Kopftuchmädchen“ und „Gemüseverkäufern“ diskutiert wurde. Wochenlang bestimmte das Buch und seine Thesen die deutsche Medienlandschaft. Es wurde verteufelt und gleichzeitig gekrönt. Aus „Das darf man doch nicht sagen!“ wurde immer häufiger „Das wird man doch noch sagen dürfen!“. Nun steht die Erscheinung der Taschenbauchausgabe kurz bevor, aber eine neuerliche Diskussion, um den Inhalt ist nicht zu erwarten. Ein Fehler! Das zeigt der nun erschiene Sammelband, „Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz“, von Martin Niggeschmidt und Michael Haller, der sich spannend und interdisziplinär mit Sarrazins Thesen auseinandersetzt.

Zum Ende des 19. Jahrhundert war es Francis Galton, ein Pionier der Eugenik, der wissenschaftlich vor dem Niedergang der Bevölkerungsqualität warnte. Er malte ein Schreckensszenario an die Wand, das sich nicht einstellte — es ist aber als Mythos im kollektiven Gedächtnis scheinbar resistent präsent. Die Gesellschaft nimmt diese Untergangs- und Schreckensszenarien offenkundig dankbar auf, heute wie damals. 2011, knapp 150 Jahre später, greift Thilo Sarrazin diese Idee auf.

Die These kurz und knapp: Deutschland schafft sich ab

Waren es bei Galton die sozialschwachen Menschen und als rassisch minderwertig definierte Völker, sind es bei Sarrazin die sozialschwachen Muslime, die aufgrund ihrer Herkunft und genetischen Determination den Untergang des Landes der Dichter und Denker besiegeln. Die deutsche Rechte feiert ihn als Messias — wogegen sich Sarrazin redlich wehrt – und manch ein Parteigenosse wollte ihn aufgrund seiner Ausführungen aus der Partei ausschließen. Der Volksmund frohlockte: Endlich sprach da mal jemand etwas aus, das viele zumindest als vages Gefühl zu spüren meinen: Wir sind nicht wie die und die sind nicht wie wir.

Kaum nackt ausgesprochen und ins Gewand der Statistik gehüllt, ist sie aber da, die Frage nach dem Wert eines jeden Menschen innerhalb einer Gesellschaft — im Falle Sarrazin, speziell der Muslime in Deutschland. Eine Frage, die an der Grundverfasstheit einer demokratischen Gesellschaft rüttelt und durch die methodische Aufbereitung durch Sarrazin im Konkreten ein besonders schwieriges Thema darstellt.

Arnulf Baring kommentiert in der Bild-Zeitung „In der Sache kann Sarrazin niemand wiederlegen.“ Niemand? Doch! Das jüngst erschiene Buch „Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz“ unternimmt diesen Versuch und die Autor*innen liefern einen sehr differenzierten Blick auf die von Sarrazin aufgeworfene und gesellschaftlich weitverbreitete These: Unsere Gesellschaft verdummt aufgrund von Gegenauslese. Die aus unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen stammenden Autor*innen hinterfragen leserfreundlich die im Buch genutzten Daten — die in der Wissenschaft schon lange umstritten sind — und beleuchten fundiert das von Sarrazin genutzte internationale Zitierkartell. Der Band macht deutlich, dass es nicht die schlichte Auswertung von Zahlen ist – wie Sarrazin redundant beteuert -, sondern die Kontextualisierung dieser und die Bezüge, die er über zitierte Personen, Bilder und Worte erzeugt. Denn die von ihm als Metapher genutzten Lipizzaner-Hengste, Ackergäule und „Kopftuchmädchen“ sind nicht nur einfache Bilder — sondern implizieren eine Wertung.

Der eigentliche Wert des Sammelbandes besteht jedoch in der Tatsache, dass es unkritische und falsch dargestellte Zusammenhänge sowie die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen hinterfragt und zur Diskussion stellt. Denn wie schon Wernher von Braun – und der muss es bekanntlich wissen – feststellte: „Die Wissenschaft hat keine moralische Dimension. Sie ist wie ein Messer. Wenn man es einem Chirurgen und einem Mörder gibt, gebraucht es jeder auf seine Weise.“

Sarrazin hat recht, wenn er sich gegen die Einvernahme durch rechtsextreme Kreise verwehrt. Denn mit seinen Thesen führt er sein eigenes Messer, mit dem es ihm gelungen ist, wovon die extreme Rechte in Deutschland weit entfernt ist — gesellschaftlich anerkannt zu werden. Diese Tatsache macht es umso notwendiger, sich mit den Thesen kritisch auseinanderzusetzen. Das Buch „Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz“ macht einen Anfang und kratzt am Image des vermeintlich messerscharfen Analytikers Sarrazin. Ein Umstand, der das Buch auch seinen Verfechtern zur Lektüre empfiehlt.

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